„Dass etwa Jürgen Klopp uns liest“ – kicker eSport feiert 10-Jähriges und blickt hinter die Kulissen
So schnell vergeht die Zeit, so viel hat sich bewegt – seit nun mehr 10 Jahren ist der kicker auch auf bzw. neben dem digitalen Spielfeld aktiv. Erst wurde die redaktionelle Arbeit extern vergeben, heute ist ein eigenes Team für die journalistische Berichterstattung zuständig. Nicole Lange, aus Sicht des Produktmanagements und Holm Kräusche, Ressorleiter, teilen ihren ganz persönlichen Rückblick über zehn Jahre eSport beim kicker. Sie verraten, wie sie es geschafft haben, sich im eSport- Umfeld zu behaupten, worin die größten Herausforderungen im Journalismus liegen und warum Jürgen Klopp bis heute eine Anekdote wert ist.
Das Thema Games ist heute viel fester in der Gesellschaft verankert,
jeder Zweite zockt mindestens irgendwas auf irgendeinem Endgerät
Seit 2014 gibt es kicker eSport, was hat sich seitdem getan?
Nicole: "Die strategische Ausrichtung hat sich in den Jahren in unterschiedlichen Positionen verändert. Außerdem haben wir optisch einen eigenen, auf eSport abgezielten Look entwickelt. Die Redaktion hat sich zudem verändert und wurde neu aufgebaut. So wurde u.a. meine Position komplett neu geschaffen, um den Bereich zu professionalisieren. Wir haben neue Kanäle mit Twitch für uns erschlossen, den kicker eSport Cup und die Auszeichnung zum eFootballer des Jahres ins Leben gerufen. Außerdem haben wir noch einige weitere kleine Projekte umgesetzt, die sich übers Jahr für den eSport und in anderen Bereichen rentieren."
Holm: "Zu Beginn war kicker eSport noch als Projekt bei der Agentur „eSport Studio“ verortet. Heute sind wir vollständig in die kicker-Strukturen integriert. Selbst im Content- Management-System tätig zu sein, hilft beim Layout und der Gestaltung der Unterseiten immens. Die kicker eSport-Redaktion hat sich durch die Jahre hindurch immer wieder verändert, derzeit arbeiten wir mit einem kleinen Team aus Freelancern sind durch die interne Integration von Redaktionsleitung und Produktmanagement natürlich ganz anders handlungsfähig. kicker eSport hat sich auch vom externen Projekt zu einem vollintegrierten Ressort weiterentwickelt, dass gerade auf techniknahe Unternehmenszweige Einfluss nimmt und Expertise einbringt."
Vor 10 Jahren sah die Videospiel-Welt noch ganz anders aus – wie hat sie sich entwickelt?
Nicole: "Die Aufmerksamkeit war hoch, denn FIFA 15 war das meistverkaufte Videospiel in Deutschland. Ich würde zudem gerne sagen, dass der eSport Frauen gegenüber offener geworden ist, leider ist das aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Immerhin ist die Wahrnehmung von Frauen im eSport und Gaming deutlich stärker in den Diskurs gerückt. Die Digitalisierung hat den Gaming-Markt auch immer stärker erfasst und man hat ein größeres Verständnis dafür, Geld für Abo-Modelle zu zahlen – diese Generation wächst nun heran. eSport selbst wird als Mediatainment gesehen. Außerdem ging vor zehn Jahren auch Twitch an den Start, ein Medium, das die Games- und eSport-Branche sehr verändert hat und dass wir auch für uns entdeckt haben sowie seit 2021 stark ausbauen. Die Konkurrenz ist auch deutlich weniger geworden, viele Medienhäuser, die nach uns gestartet sind, haben nicht nachhaltig und mit zu viel Buhei den Markt überrannt. Das war dann in den letzten Jahren schnell wieder vorbei. eSport-Journalismus in Deutschland ist ‚leider‘ noch immer ein Einhorn."
Holm: "Das würde ich gar nicht mal unbedingt sagen. In Anlehnung an unseren Artikel über Katowice: Damals war das Publikum nicht so zahlreich und die Veranstaltungen kleiner und nischiger. Abgesehen davon: Riot war mit Worlds da, Valve mit dem International, es gab FIFA und PES... Die Strukturen drum herum waren viel fragiler: eSport-Journalismus ist gerade international keine Nische mehr, in einigen Titeln wird es fast schon bürokratisch was Events und Ligen angeht. Das Thema Games ist heute noch viel fester in der Mitte der Gesellschaft verankert, jeder Zweite zockt mindestens irgendwas auf irgendeinem Endgerät. Es gibt mehr Forschung und es gibt zwar nicht mehr, dafür aber etabliertere eSport-Titel."
... und wie hat sich kicker eSport-Berichterstattung dahingehend (weiter-) entwickelt?
Wir sind von einem externen Projekt zu einer Abteilung geworden,
die multimedial agiert und Formate entwickelt.
Nicole: "Die Themen sind stärker fokussiert über die Jahre und inhaltlich konzentrieren wir uns auf neue Titel, die wir ebenso sinnvoll abdecken können. Wir wollen thematisch weiterwachsen, allerdings auch mit der gleichen Sorgfalt. Aber die Entwicklung über weitere Plattformen hinaus und eine eigene Sektion auf der Seite mit unterschiedlichen Themenwelten, die in allen kicker-Produkten gleichwertig existieren, war schon ein sehr großer Schritt. Ebenso wie die Integration neuer Plattformen, wie Twitch und der Aufbau einer eigenen Redaktion, die nicht von einer Agentur betrieben wird."
Holm: "Wir professionalisieren uns jedes Jahr. Die schon erwähnte Integration war vermutlich der wichtigste Schritt. Heute wie damals stellen wir mit vergleichsweise geringen Ressourcen ein relevantes Magazin unter dem Dach der kicker Content-Welt auf die Beine, das eine breite Palette von Inhalten abdeckt. Da gibt es den tiefgreifenden Artikel über den Struktur-Wandel der Gamingsstadt Katowice oder unsere wöchentliche aufwendige Berichterstattung über die Virtual Bundesliga bis hin zu Slideshows über die günstigsten 5-Sterne-Skiller in FC 24. Aber das war auch schon der kicker eSport-Anspruch vor fünf Jahren. Unsere Entwicklung zuletzt liegt besonders in der Produktentwicklung: Wir sind von einem externen redaktionellen Projekt zu einer Abteilung geworden, die multimedial agiert und Formate entwickelt, die wirken."
Was waren eure größten Herausforderungen?
Anfangs den Platz in der Branche zu finden und mit
den Umständen und Widrigkeiten der Branche umzugehen.
Nicole: "Anfangs den Platz in der Branche zu finden und mit den Umständen und Widrigkeiten der Branche umzugehen. Ebenso wie der hohe Qualitätsanspruch und als Medium ernst genommen zu werden. Vertrauen zur Community musste aufgebaut und die Skeptiker überzeugt werden, was in Teilen immer noch ein Prozess ist. Organisatorisch eine wertige eSport-Redaktion aufzubauen. Die Auszeichnung zum eFootballer des Jahres waren anfangs nur zwei Artikel und eine Umfrage, jetzt ist die Organisation auch hier deutlich umfangreicher, was aber auch Spaß macht."
Holm: "Erneut, der Übergang zwischen Agentur und Inhouse-Produktion. Die Jahre 2019 und 2020 können sicher auch als „Herausforderung“ oder mehr noch als schwierige Episode gelten. In der Zeit haben wir viele Leser verloren und arbeiten noch drei Jahre später daran, unsere nun wieder qualitativ hochwertige Berichterstattung mehr Menschen zu präsentieren. Herausfordernd ist dabei in kleinen Teams auch oft die Arbeitslast gewesen, den jeder einzelne zu tragen hat. Dabei nicht zu übertreiben, ist eine der Aufgaben in der neuen Struktur. Wir kämpfen auch immer mit der besonderen Rolle, die wir einnehmen. Einerseits sind wir Stakeholder der eSport-Szene, wir wollen, dass sie vorankommt, wir wollen EA SPORTS und die DFL erfolgreich sehen, jedoch ist es gleichzeitig unsere vordringliche Aufgabe alle Fehler und Mauscheleien genau jener schonungslos aufzuarbeiten.
Eine letzte Herausforderung will ich noch nennen: Der eSport-Winter geht auch an der Medienzunft nicht spurlos vorbei. Wir haben letztes Jahr einen größeren Teil deutsche eSport-Magazine aufgeben gesehen. Auch wir haben das Problem, dass die Leserschaft Inhalte umsonst erwartet und das Geld der Sponsoren und Investoren knapper geworden ist. Außerdem: Welche Relevanz hat Journalismus 2024 noch für die Menschen? Ist das wichtig, oder kann das weg? Die Zerreißprobe zwischen unterhaltenden Gaming-Inhalten und hartem Journalismus – Das ist eine, der wir uns täglich stellen müssen."
Was waren eure größten Learnings?
Nicole: "Man darf nichts erzwingen und hin und wieder sind tolle Ideen auch mal nicht umzusetzen oder vielleicht nicht so toll, wie gedacht. Das muss nicht mal die eigene Schuld sein, aber wir bewegen uns in einer teils sehr „unverbindlichen“ Branche und das muss man manchmal leider auch einsehen. Redaktionell mussten viele Learnings genommen werden, die Szene ist vor allen auf den Socials gnadenlos und da kann sich schnell ein Schneeball-Effekt bilden, doch wir waren bisher immer in der Lage, uns zu behaupten."
Holm: "Unser Journalismus funktioniert. Wenn ich auf einer beliebigen Anhörung zu Lootboxen oder einer Präsentation beim HSV (natürlich ungekennzeichnete) kicker eSport-Inhalte sehe, weiß ich, dass wir eine Funktion haben. Wenn uns Spieler oder Funktionäre bei kleinsten Fehlern Nachrichten schicken, wird klar: Wir informieren und tragen zur Meinungsbildung vieler Menschen bei und das bei einem Thema wie eSport, das macht uns stolz. Allerdings: Vermarktungsfähige Leserzahlen kommen mit wenigen VIP-Lesern für kein Medium zustande, sprich: dass etwa Jürgen Klopp uns liest, bezahlt nicht die Redaktion."
Was sind die größten Meilensteine oder sagen wir besser: Level-Ups? Gibt es ein Highlight?
Nicole: Für mich war es unter anderem die kicker eFootballer des Jahres Auszeichnung, die wir nun seit einigen Jahren zusammen mit der Community durchführen. Außerdem: der erste kicker eSport Cup, der nachhaltig viele Talente hervorbrachte und auch dass wir eigene eSport-Journalisten ausbilden können.
Holm: Leitende Redakteure messen das wohl gern in Reichweiten: Die erste Million auf einem Beitrag, 10 Millionen Zugriffe in einem Monat. Aber auch Jürgen Klopp der zum deutschen FIFA-Weltmeister sagt er „habe über ihn im kicker gelesen“ oder Spieler, die wir früh begleiten und die dann Meister werden oder bei den großen unter Vertrag kommen, investigative Inhalte, die unserer Funktion gerecht werden, das sind journalistische Meilensteine, die uns viel bedeuten. Für mich persönlich war der
neueste größte Meilenstein zu sehen, dass wenn ich an einem beliebigen Tag auf die Seite gucke, dort Inhalte finde, wie ich sie als ein Leser erwarte – anders gesagt: Die Redaktion läuft. Das gibt mir Zufriedenheit. Kooperationen mit DFB und DFL zeigen, welchen Stellenwert wir haben. Und augenzwinkernd kann man auch aufgeregte Anrufe der DFL oder EA bei mir, oder Vereinsstellungnahmen als Meilenstein verbuchen, wenn wir eine investigative Geschichte bringen.
Die Zielgruppe wird natürlich sehr stark über den kicker mitdefiniert,
dennoch haben wir über die Jahre neue und vor allen auch
jüngere Menschen in unseren Bereich gezogen.
Welche Zielgruppe erreicht ihr heute?
Nicole: "Die Zielgruppe wird natürlich sehr stark über den kicker mitdefiniert, dennoch haben wir über die Jahre neue und vor allen auch jüngere Menschen in unseren Bereich gezogen. Unsere Analysen zeigen, dass wir vor allem ein Fußball-affines Publikum, darunter Gamer, eFootball-Fans erreichen. Wir sehen durch unsere Partner auch ein großes Interesse an Urlaub, Reisen und – wie sollte es anders sein – ein besonders starkes Interesse an Computer- und -zubehör."
Holm: "Zunächst sind wir ein Teil des kickers, das heißt wir richten uns in erster Linie an eSport- und Gaming-interessierte kicker-Leser. Es gibt große Schnittmengen mit Sportspielen im allgemeinen und EAs Fußballspiel im speziellen. Dafür halten wir die Leserinnen und Leser auf dem Laufenden, mit allen relevanten Infos, aber auch Wissenswertem und natürlich den eSport-News. Ebenfalls relevant sind die im Fußball-eSport aktiven Akteure, von Spielern bis Aufsichtsräte. Außerdem richten wir uns aber an die gesamte eSport-Community im deutschsprachigen Raum. Da decken wir aber eher die Meta-Themen aus Politik, Wirtschaft und Szene ab, weniger spezielle andere Disziplinen. Hier nehmen wir unseren journalistischen Auftrag wahr und schauen den Publishern und Ligenausrichtern auf die Finger."
Ausblick: wie seht ihr die Entwicklungen rund um die eSport-Berichterstattung?
Nicole: "Momentan ist ein Rückschritt zu erkennen, was ich sehr bedaure. Denn der Markt hat sehr viel zu bieten. Generell muss eSport-Journalismus aber auch bezahlt werden und darüber haben sich viele Medienhäuser keine Gedanken gemacht. Wenn man diese Ansätze stärker bedenkt, dann sollte es wieder besser werden. Momentan ist die Konkurrenz in Deutschland dahingehend sehr überschaubar, was uns in eine hervorragende Situation bringt, aber für die Varianz schade ist und die Branchensituation in Deutschland generell ganz gut wiedergibt. Die journalistische Entwicklung ist momentan daher leider eher rückläufig."
Holm: "Um einen der Gründer von G2 lose zu zitieren: 'Ich habe schon vor 20 Jahren gesagt, das wird groß und dann hat alles länger gedauert, als ich geglaubt habe. Deswegen verspreche ich nichts mehr.' eSport könnte weiter wachsen, kongruent dazu auch die eSport-Medien.
Letztlich hängt das an den Leserinnen und Lesern. Wenn alles (Werbe- und Leser- )Geld an die Influencer fließt, werden wir sehr wenige Medien haben, die mit schmalen Budgets und kleinen Teams über ihre Kernthemen berichten. Die Publisher und Ligenbetreiber sind ähnlich wie mir das beim FC Bayern München scheint, nicht notwendigerweise an objektiv-kritischer Berichterstattung interessiert. Also unterhalten sie eigene Publikationen. Das Problem haben wir aber gesellschaftsweit: „Ist das wichtig oder kann das weg?“ Journalismus hat eine Funktion, die schlecht
mit kapitalistischen Unternehmen passt, die um Profite besorgt sind. Die Entwicklungen sind also aktuell nicht gut, sonst würden die Magazine nicht aufgeben. Bei G2 geht man davon aus, dass sich der weltweite Markt konsolidiert – das könnte auch für eSport-Magazine gelten. Kritische Berichterstattung ist wichtig, und wer durchhält, wird mit cleveren Entscheidungen und breiter Coverage profitabel. Wie viele Medien das schaffen, hängt an der Öffentlichkeit. Derzeit sieht es nach wenigen Champions aus. Es freut mich einerseits, das kicker eSport einer davon ist und Jahr für Jahr in einen breiteren Themenansatz investiert. Einst werden wir so einen großen Teil der eSport-Disziplinen berichterstattend abdecken. Aber wenn es dann „nur“ noch uns gibt, wäre das wahrlich nicht gut – für Sportlerinnen und Sportler genauso wie für das Branchen-Publikum."